Perfektionismus – dieser Begriff löst bei vielen eine schuldbewusste Beklommenheit aus. Für viele beschreibt er den Grund für ständigen Druck und Selbstkritik. Andere schaffen es jedoch, ihn als Antrieb für die Realisierung großer Träume und das Schaffen von herausragenden Leistungen zu nutzen. Aber was ist Perfektionismus eigentlich? Ist dieser Fluch überwindbar? Wie kann man Perfektionismus als Stärke nutzen?
Die am weitesten verbreitete Art des Perfektionismus lässt sich als eine explosive Mischung beschreiben: Streben nach Fehlerlosigkeit, begleitet von extrem hohen Ansprüchen und übermäßiger Selbstkritik. Schon kleine Fehler werden als katastrophal wahrgenommen. Die Falle des Alles-oder-Nichts-Denkens schnappt zu: Entweder es ist perfekt oder nichts wert.
Dies führt -nicht überraschend- zu Stress, Erschöpfung und Burnout, aber auch zu Prokrastination und dem Vermeiden von Herausforderungen (statt das Risiko einzugehen, zu scheitern, fange ich lieber gar nicht erst an). Gefühle der Unzulänglichkeit, Schuld, Scham und ein angeknackster Selbstwert sind die Folge. Nicht das, was wir uns unter einem schönen Leben vorstellen. Doch schauen wir genauer hin.
Die verschiedenen Arten von Perfektionismus
In der Psychologie werden verschiedene Facetten des Perfektionismus unterschieden, die jeweils ihre eigene Dynamik haben und separat oder gleichzeitig auftreten können:
- Selbstbezogener Perfektionismus: Hier werden die Ansprüche an sich selbst so hoch gesteckt, dass sie kaum zu erfüllen sind, begleitet von harter Selbstkritik und dem Gefühl, dass der eigene Wert von den Leistungen abhängt, die man erbringt.
- Sozial vorgeschriebener Perfektionismus: Der Glaube, dass andere Perfektion von einem erwarten, gepaart mit übermäßiger Angst vor Kritik. Sei es die Familie, der Freundeskreis, der Arbeitgeber oder die Gesellschaft – auch die Medien, die wir konsumieren, können Druck auslösen. Die Botschaft, die wir hören, lautet: Nur wer perfekt ist, wird akzeptiert.
- Fremdbezogener Perfektionismus: Die Neigung, unrealistisch hohe Standards an andere zu stellen. Das Umfeld soll Perfektion leisten – dies führt häufig zu Frustration und Konflikten.
Die Psychologen Thomas Curran und Andrew Hill haben festgestellt, dass Perfektionismus über die letzten Jahrzehnte stetig zugenommen hat. Sie fanden heraus, dass insbesondere der sozial vorgeschriebene Perfektionismus stark gestiegen ist.
Jüngere Generationen spüren zunehmend Druck, den Erwartungen der Gesellschaft oder ihrer Mitmenschen entsprechen zu müssen.
Wie entsteht Perfektionismus?
Wie kommt es, dass einige Menschen mehr als andere dazu tendieren, ihre Zeit und Energie darauf zu fokussieren, alles richtig machen zu wollen?
Wie so oft in der Psychologie können auch hier die Eltern eine Rolle spielen. Strenge, leistungsorientierte Eltern, die hohe Erwartungen haben und Fehler nicht tolerieren, bieten die beste Voraussetzung für Perfektionismus. Kinder, die glauben, dass die elterliche Liebe von ihren Leistungen abhängt, entwickeln oft Perfektionismus. Sie neigen dazu, Fehler als schwerwiegende persönliche Mängel zu betrachten und sind oft übermäßig selbstkritisch. Auch genetische Faktoren sind im Gespräch.
Kultureller und gesellschaftlicher Druck trägt ebenfalls dazu bei. In westlichen Kulturen gibt es einen starken Fokus auf Individualismus und Wettbewerb, was den Druck erhöht, perfekt zu sein und sich von anderen abzuheben oder zumindest nicht abgehängt zu werden. Der ständige Vergleich auf Plattformen wie Instagram, TikTok und Co. verstärkt Perfektionismus, da Menschen sich mit idealisierten und oft unrealistischen Darstellungen des Lebens anderer konfrontiert sehen.
Die beschriebenen ungünstigen Folgen von perfektionistischer Besorgnis entstehen also dann, wenn das Selbstwertgefühl eng mit der eigenen Leistung verknüpft wird. Um sich wertvoll zu fühlen, werden Ziele immer höher und unrealistischer gesteckt – ein Teufelskreis.
Perfektionismus in diesem Sinne ist keine Persönlichkeitseigenschaft, sondern eine Strategie zur Bewältigung von Angst – eine Erkenntnis, die die Art und Weise verändert, wie wir Perfektionismus verstehen und behandeln können.
Dies ist eine gute Nachricht. Seine Persönlichkeit zu ändern, ist ein fast unmögliches Unterfangen, eine neue Strategie zu lernen hingegen ist für jeden machbar.
Der gute Perfektionismus
Perfektionismus kann mehr, als uns erschöpft und niedergeschlagen zurückzulassen. Katherine Morgan Schafler beschreibt in ihrem Buch The Perfectionist’s Guide to Losing Control, wie Perfektionismus eine Superkraft sein kann. Ähnlich wie bei Geld oder Macht sei es entscheidend, wie man diese Kraft einsetzt: zum Guten oder zum Schlechten.
Perfektionistisches Streben, also das Streben nach Vollkommenheit (im Gegensatz zum übertriebenen Vermeiden von Fehlern) ist die Basis zum Erreichen von Exzellenz, die nicht auf Kosten der Person geht. Dafür braucht es als Grundlage einen gesunden Selbstwelt und das Wissen, dass dieser nicht durch Verhalten, Leistung oder Scheitern veränderbar ist. Jeder Mensch ist wertvoll, so wie er ist, nichts was wir tun, kann diesen Wert vermindern oder steigern.
In einer Situation instinktiv eine Vision davon zu entwickeln, wie etwas zur Vollkommenheit gebracht werden könnte, ist eine große Gabe, die nicht jedem Menschen gegeben ist. Perfektionismus beschreibt demzufolge nach Schafler den innerlichen Antrieb, die Diskrepanz zwischen Ideal und Realität zu verringern.
Adaptiver, also gesunder und hilfreicher, Perfektionismus basiert auf einem gesunden Selbstwert und ist wachstumsorientiert. Ich kann mir mit Freude ausmalen, wie etwas perfekt wäre und darauf zuarbeiten, ohne mich von Fehlern lähmen zu lassen.
Wenn ich Perfektion nicht erreiche, bedeutet dass nicht das ich gescheitert bin, ich kann zufrieden auf ein exzellentes Resultat schauen. Ideale sollen inspirieren und müssen nicht immer erreicht zu werden. Aber oft kommen wir sehr hoch, wenn wir nach den Sternen greifen.
Ein gesunder Perfektionismus konzentriert sich auf den Prozess, nicht nur auf das Ergebnis. Er bedeutet, nach Exzellenz zu streben und gleichzeitig zu akzeptieren, dass Fehler und Unvollkommenheit Teil des Wachstums sind.
Praktische Tipps: Milde mit sich selbst und klare Prioritäten
Neben dem Glauben an den eigenen, unerschütterlichen Selbstwert, ist ein weiterer Schlüssel die Milde sich selbst gegenüber. Es hilft, mit sich selbst zu sprechen, wie man es mit einer guten Freundin tun würde – verständnisvoll, unterstützend, ohne harsche Kritik. Wer sich selbst empathisch begegnet, kann Fehler leichter als Teil des Lernprozesses akzeptieren und stürzt nicht in einen Teufelskreis aus Kritik, Scham und Schuld.
Auch das Setzen klarer Prioritäten ist entscheidend. Es gibt Bereiche, in denen sich das Streben nach Perfektion lohnt, aber genauso wichtig ist es, Bereiche zu erkennen, in denen „gut genug“ vollkommen ausreicht. So vermeiden wir es, Energie in Details zu stecken, die uns von den wirklich wichtigen Dingen ablenken. Das die Kernaussagen einer Präsentation richtig und überzeugend sind, ist wichtig, die „perfekte“ Formatierung kann wiederum unendlich viel Zeit in Anspruch nehmen, die woanders besser investiert wäre.
Perfektionismus als Ressource
Perfektionismus kann zu einem kraftvollen Antrieb werden, wenn wir ihn als Ressource verstehen, die uns hilft, unsere Stärken zu entfalten. Es geht nicht darum, den Perfektionismus loszuwerden, sondern ihn bewusst und zielgerichtet zu nutzen. Mit der richtigen Balance aus Exzellenzstreben und Selbstfürsorge können wir mehr Gelassenheit und Zufriedenheit in unser Leben bringen.
Typen des Perfektionismus: Welcher Typ bist du?
Kathrine Morgan Schafler zeigt auf, dass Perfektionismus viele Facetten hat und beschreibt verschiedene Typen. Jeder Typ bringt spezifische Stärken und Herausforderungen mit sich und oft ergänzen sich die unterschiedlichen Typen sehr gut:
(Hier geht es zum englischen Quiz der Autorin: https://www.katherinemorganschafler.com/the-quiz)
- Classic Perfectionist: Organisiert, zuverlässig und strukturiert, hat klare Ziele und setzt hohe Standards – wirkt manchmal emotional etwas distanziert.
- Procrastinator Perfectionist: Möchte perfekte Startbedingungen, plant und recherchiert intensiv. Diese Menschen analysieren gründlich, aber benötigen manchmal Starthilfe.
- Messy Perfectionist: Sprüht vor Ideen und startet Projekte leidenschaftlich, kann aber Schwierigkeiten haben, Aufgaben abzuschließen und neigt dazu sich zu überlasten.
- Parisian Perfectionist: Strebt nach idealen Beziehungen und Anerkennung, kann sich sehr gut in andere hineinversetzten und weiß, was andere brauchen. Tendenz zur Selbstaufgabe.
- Intense Perfectionist: Hat einen kompromisslosen Fokus auf das Ziel und ist bereit, alles zu geben. Diese Personen erreichen oft Exzellenz, leiden jedoch unter hohem Stress und vernachlässigen leicht ihr Wohlbefinden.
Die Einordnung kann helfen, die eigenen Muster zu erkennen. Wer sich der eigenen Stärken und Herausforderungen bewusst ist, kann sich gezielt Unterstützung (durch Technologie, Abläufe oder andere Menschen) suchen um diese zu bewältigen und seine Stärken gezielt einsetzten.
Exzellenzstreben statt Perfektionismus: 8 Schritte aus der Perfektionismus-Falle
Was kann uns also helfen, dass wir Perfektionismus ohne schlimme Nebenwirkungen für uns nutzen können?
- Prioritäten setzen: Deine Kapazitäten sind endlich. Nicht alles muss perfekt sein. Identifiziere, was dir wirklich wichtig ist und fokussiere dich darauf. Bei allem anderen reicht „gut genug“. Auch Superwoman muss beim Öffnen des Marmeladeglas darauf achten, nicht ihre ganze Power einzusetzen. Klare Prioritäten machen es möglich den Perfektionismus auf Bereiche zu lenken, bei denen es sich wirklich lohnt, ohne auszubrennen.
- Selbstmitgefühl üben: Entscheide dich gegen Selbstkritik, sie macht das Leben nur schwer. Übe dir selbst zu verzeihen und liebevoll mit dir umzugehen, dann ist es auch einfacher aus Fehlern zu lernen und sich weiter zu entwickeln.
- Reflektiere deinen Antrieb: Du spürst wie du wieder in alte Muster rutscht? Frage dich: Agierst du gerade aus Angst vor etwas? Bist du getrieben von Selbstzweifeln? Dann halte inne und trete einen Schritt zurück. Mache eine kurze Pause, am besten an der frischen Luft. Besinne dich zurück auf deine Vision. Arbeite auf etwas zu, nicht von etwas weg. Dann bist du auf dem richtigen Weg.
- Gedanken hinterfragen: Glaube nicht alles was du denkst. Unsere Gedanken tendieren zum Drama. Schreibe alle Gedanken auf und schaue sie dir dann allein oder mit einer unterstützenden Person (Freundin, Coach,…) genau an. Sind sie wirklich wahr? Und wenn ja, ist es wirklich so schlimm?
- Erwartungen überprüfen: Viele unserer Standards und Erwartungen, die großen Druck auf uns ausüben, sind gar nicht unsere eigenen. Hinterfrage, ob du dich wirklich an diesen Maßstäben messen möchtest. Du musst es nicht.
- Fehler akzeptieren: Fehler machen und Scheitern gehören zum Mensch sein dazu. Sie mögen unangenehm sein, aber liefern uns viel mehr Informationen als Erfolge es tun. Finde jemanden, dem du dich anvertrauen kannst, so vermeidest du das Scham und Schuldgefühle wachsen, dass tun sie nur im Verborgenen.
- Unterstützung suchen: du hast erkannt wo deine sogenannten Schwächen liegen? Statt dich daran abzumühen, diese zu überwinden, finde Prozesse, Programme, Abläufe und Menschen, die dich ergänzen und dir dein Leben leichter machen. Niemand kann alles, jeder kann etwas und gemeinsam kann man alles.
- Fortschritte feiern: Übe dich darin, auch kleine Fortschritte, mutiges Probieren, Akte des Selbstmitgefühls,… als Erfolge zu sehen und zu feiern.
Perfektionismus muss keine Last sein. Die Fähigkeit, ein klares Idealbild zu entwickeln und mit Ausdauer darauf hinzuarbeiten, ist visionär. Sie kann Motivation freisetzen, Neues zu schaffen und Ziele zu verfolgen, die andere für unerreichbar halten. Richtig und für das Richtige eingesetzt, wird Perfektionismus zu einer ungeheuren Stärke.
Dieser Blogbeitrag wurde begleitend zu unserer Podcastfolge von mir, Julia Pouly, verfasst. Wenn du Interesse an einem Online-Coaching oder einem Coaching-Spaziergang in Hamburg hast, melde dich gerne unter hello@juliapouly.com. Auf meiner Website juliapouly.com findest du weitere Informationen zu meinem Angebot.
Katja Tressel und Julia Pouly sind „Die Psychologinnen“ und veröffentlichen jeden Monat eine neue Podcast-Folge überall dort wo es Podcasts gibt. Schon bald wird es weitere spannende Angebote wie Kurse und Events geben – bleib also dran!
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